Am nächsten Morgen nach einer sehr erholsamen Nacht mache ich mich auf den Weg. Leider gibt es in meinem Hotel kein Frühstücksangebot, da, wie mir der nette Besitzer erklärt, durch die Pandemie die Planung so unberechenbar geworden sei. Er habe das Frühstück zunächst bei den Buchungen ausgewiesen, dann durfte er wegen den Beschränkungen keins mehr anbieten und die Gäste waren natürlich unzufrieden. Deshalb habe er dann generell kein Frühstück mehr angeboten. Was für eine verrückte, unberechenbare Zeit ...

Also hole ich mir beim nahe gelegenen Bäcker einen Kaffee-to-go und ein belegtes Brötchen und gehe weiter zur Tourist-Info, bei der ich mir noch einen Stempel für mein Pilgerbuch abhole.

Der Weg verläuft weiter lahnaufwärts Richtung Koblenz. An der Mündung der Lahn in den Rhein begegnet mir dieser "Baareschesser".

Da sich die Menschen am rechten Lahnufer aus Ermangelung von frischem Quellwasser früher mit Grundwasser versorgen mussten, achteten Sie schon im Mittelalter darauf, dass dieses nicht verunreinigt wird. Zum Auffang und Abtransport ihrer Fäkalien benutzten sie solche Baaren, die damals als Toilette dienten.

Was man unterwegs so alles lernt...

Die Johanniskirche

Ein Stück weiter gelange ich zum Ende des Lahn-Camino, der Johanniskirche an der Lahn. Hier steht die schöne Jakobs-Stehle, auf der die verbleibenden Kilometer bis Santiago de Compostella aufgezeigt werden.

Von hier aus nur noch 2.650 km.

An der Johanniskirche treffe ich auf zwei Personen mit Rad, von denen ich den Herren bitte, mich vor der Stehle zu fotografieren. Als er sich wieder umdreht, teile ich ihm mit, dass seine Frau schon in die Kirche hineingegangen sei. Er fängt daraufhin an laut zu lachen, da er mit seinem Kumpel unterwegs ist.
Durch dieses Missverständnis entwickelt sich ein sehr nettes Gespräch mit den beiden, die an meinem Weg der letzten zwei Tage interessiert sind, da sie die Wanderung von Obernhof nach Koblenz selbst schon mal ins Auge gefasst hatten.

Die beiden Herren ziehen weiter und ich lasse noch einen Augenblick lang die Kirche auf mich wirken. Ich lasse den ganzen Weg von Wetzlar aus nochmal durch meine Gedanken ziehen und bin ein bißchen stolz darauf, dass ich so weit gekommen bin, obwohl ich anfangs noch gar nicht wußte, wie weit ich gehen werde.

Weiter zum Moselcamino

Ich setze meinen Fußweg am Rhein entlang fort. Da ich mir zum Ziel gemacht habe, die ganze Strecke ohne öffentliche Verkehrsmittel zurückzulegen, laufe ich am Rhein entlang bis zur Südbrücke von Koblenz, um hier den Rhein zu überqueren. Mein Ziel ist der Einstieg zum Mosel-Camino an der Kirche St. Menas neben der Burg Stolzenfels.

Der Weg zieht sich endlos dahin. Ich passiere einige Gassigeher, darunter auch eine Frau mit einem niedlichen Welpen, der mich freundlich begrüssen darf. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreiche ich endlich die Brücke, genieße ein paar Ausblicke auf Koblenz im Nieselregen und laufe auf der anderen Seite der Rheins wieder flussabwärts durch eine große Grünfläche über den Leinenpfad bis zum Stadtteil Stolzenfels.

Nachdem ich ein Schild mit Hinweis auf die erste Stempelstelle des Mosel-Caminos finde, gehe ich noch ein wenig die Haupstraße weiter, bis ich zu dem Stempelkasten komme, dem ich eine handbemalte Muschel, sowie einen Mosel-Anstecker (zum Selbstkostenpreis) entnehme. Vielen Dank an die Macher dieser Schmuckstücke.
Den ersten Stempel des Weges drücke ich in meinen Pass.
Ich gehe wieder ein Stück die Straße herunter und dann stehe ich endlich vor dem Schild:

"Hier beginnt der Mosel-Camino"

Mosel-Camino (Etappe 1) Koblenz - Waldesch

Dienstag, 26. April 2022 (mittags) / 10 KM

Der Eingang (Anfang) in Koblenz Stolzenfels ist markiert mit einer steinernen Stehle mit Jokobsmuschel und einem großen blauen Schild. Der Weg beginnt mit Treppen zur Kirche St. Mensa, die leider verschlossen ist. Wie ich später lese, ist die Kirche nur direkt vor und nach den Gottesdiensten geöffnte. Also folge ich dem Weg weiter. Ich bin froh, dass ich mir den Regenponcho vor der Wanderung noch zugelegt habe, denn der Regen nimmt jetzt immer mehr zu. Ohne die Regenhaut wäre ich am Ende des Tages sicherlich durch und durch nass. Unter einem Torbogen streife ich ihn über und versuche noch ein paar trockene Fotos von der Burganlage zu machen.

Burg Stolzenfels

Die Burg Stolzenfels wurde im 13.Jahrhundert erbaut und um 1300 als kurtrierische Zollburg ausgebaut. Ihr gegenüber des Rheins steht die Burg Lahneck, auf der Lahnsteiner Seite, die nördlichste Außenstelle des kurmainzischen Territoriums, an der ich gestern im Regen vorbeigelaufen bin.

Im 30 Jährigen Krieg wurde die Burg von den Schweden und dann von den Franzosen besetzt. Danach wurde sie von den Franzosen zerstört und verfiel die nächsten 150 Jahre. Ab ca 1823 wurde die Burg und das Schloß wieder aufgebaut. Seit 2002 ist sie Teil des UNESCO-Welterbes Oberes Mittelrheintal.

Der Pastorenpfad nach Waldesch

Den Weg etwas weiter voran entdecke ich schräg unter mir im Wald noch ein Burggebäude, verwunschen von Zweigen verdeckt. Hierbei handelt es sich um die Schlossklause, die früher als Pferdestall und zur Lagerung der Kutschen sowie als Gesindehaus diente, heute aber leer steht.

So lasse ich die Schloßklause rechts liegen und mache mich an den Aufstieg zum Pastorenpfad, der kurz vor der St. Florianshütte beginnt.

Laut Pilgerführer gab es früher einen Pastor, der sowohl für Stolzenfels als auch für die Gemeinde Waldesch zuständig war. Er pendelte stets (vor allem Sonntags) zwischen beiden Orten hin und her. Dieser Pastor hat von mir den vollen Respekt, denn er nutzte diesen Weg wohl mehrmals am Tag.

Der Pfad ist zeitweise ein wenig steil und führt ansonsten stetig bergauf. Durch den jetzt einsetzenden starken Regen verwandelt er sich zunehmend in morastigen Untergrund, dem meine Schuhe nach einiger Zeit leider nichts mehr entgegen zu setzen haben. Tratschenass stapfe ich von einer Pfütze zur nächsten. Neben dem Weg bilden sich kleine Seen.

In dieser Situation kommt mir doch tatsächlich der Gedanke, vor dem ich mich ein bißchen gefürchtet habe:
"Was mache ich eigentlich hier? Mitten im Wald - ganz alleine - nass - mit schwindender Lust in die nächste Pfütze zu hüpfen - auf einem steilen Weg mit meinem Gepäck auf dem Rücken... " Ein Gefühl der Einsamkeit pakt mich, das ich so gar nicht kenne. Sind es alle Faktoren zusammen?

Doch meine Motivationsreserven sind offensichtlich noch nicht alle verbraucht, denn nach einer eindringlichen Eigenmotivation: "einfach weitergehen!" geht das Gefühl langsam wieder weg (was sollte ich auch sonst machen, so mitten im Wald...).
Das ist der Zeitpunkt, an dem ich meiner Verzweiflung ein wenig Luft mache und ein paar Fotos vom Weg und dem Regen in die Welt hinaus schicke - Social Media sei dank.

Etwa in der Hälfte des Pastorenpfades zwischen Stolzenfels und Waldesch geht der linksrheinische Jakobsweg ab. Die Stelle ist gut sichtbar mit einem großen Schild und vielen Pfeilen gekennzeichet.

Es regnet jetzt immer mehr und so habe ich keine Lust, noch tiefer in den Wald hineinzugehen. Also stapfe ich vorbei an den versteckten Grundmauern des Merkurtempels, dem zu meinem Pech schon lange das Dach fehlt und steuere die kurz dahinter liegende Merkurtempelhütte an, um hier mal den Poncho auszuschütteln und kurz zu verschnaufen. Die Hütte ist zwar nur ein Holzverschlag mitten im Wald, aber immerhin mit Dach.

Und was sehe ich da auf meinem Handy? - Daumen hoch mit den Worten "Halte durch" und viele weitere aufmunternde Wünsche.

Das tut gerade richtig gut!

Nach der kurzen Rast geht es wieder hinaus in den strömenden Regen und noch ein paar Kilometer weiter bis ich Waldesch erreiche.

Als erstes steuere ich die Kirche St. Antonius Eremit an, in der ich ein wenig zu mir komme. Eine Frau tritt durch die Seitentür ein, empfängt mich freundlich und führt mich ins benachbarte Pfarramt, in dem ich den Pilgerstempel für die Etappe erhalte.

Anschließend suche ich meine Pension, in die ich eigentlich erst in zwei Stunden einchecken kann, aber nachdem ich mich triefendnass dazu durchringe, die Dame schon früher zu stören, werde ich auch eingelassen und beziehe mein Nachtquartier. Zum Glück habe ich noch ein Sandwich vom Morgen und so muss ich das Haus gar nicht mehr verlassen. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich in dem kleinen Ort ein offenes Restaurant gefunden hätte...

(-> 2. Etappe: Waldesch - Löf)

(-> Zum Lahn-Camino - Start in Wetzlar)